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Die Ärzteschaft meldet sich in einem Offenen Brief zu den Vorstellungen der Gesundheitsdirektion:

Gesundheitszentren braucht das Land

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Werte Frau Annamaria Müller,

Sie haben als Vorsteherin des Spitalamtes des Kantons Bern dem Journalisten Fabian Schäfer die kantonalen Vorstellungen zur Gesundheitsversorgung der Peripherie erläutert. Im daraus resultierenden Artikel werden Falschinformationen und abwertende Urteile geäussert, die wir nicht hinnehmen können und die entschiedene Zweifel an Ihren Kenntnissen über die Versorgungslage in der Peripherie aufkommen lassen. Wir beschränken uns in unserer Argumentation auf die Verhältnisse unserer Region Simmental-Saanenland.

Sie preisen anstelle eines peripheren Kleinspitals Gesundheitszentren an, ein Begriff, der bisher nie verbindlich definiert worden ist. Immerhin sollen sie einen ärztlichen Pikettdienst rund um die Uhr, eine Notfallbehandlung vor Ort und den Transport mit Rettungsdiensten ins nächste geeignete Akutspital bieten, aber sicher keine stationäre Behandlung (Betten über Nacht). Ihr Konzept beruhe auf folgenden Entwicklungen, denen wir unsere Überlegungen beifügen:

1. «Ambulante Behandlungen können immer häufiger erbracht werden.»

Korrekte, ambulante Eingriffe werden schon lange auch in kleinen Spitälern mit Erfolg forciert. Hingegen kommt es auch einmal vor, dass sich eine Patientin nach Narkose oder Regionalanästhesie nicht planmässig bis am Abend soweit erholt, dass sie mit gutem Gewissen nach Hause entlassen werden kann. Überwachung über Nacht ist nicht vorgesehen. Was dann? Ambulanztransport nach Thun? Die Kosten laufen aus dem Ruder und die Eingriffe werden im Gesundheitszentrum kaum mehr durchgeführt?

2. «Wegen den steigenden Anforderungen seien kleine Akutspitäler überfordert.»

Ein Kleinspital wird gerade dank seiner Beweglichkeit auch in Zukunft fachlich kompetent behandeln. Nur eine Minderheit der Patienten, die ins Spital überwiesen werden, sind hochkomplex und bedürfen der apparativen Hightech-Medizin, die halt im grossen Spital eher locker eingesetzt wird. Ein stufengerechter, wirtschaftlicher Einsatz der Mittel ist gefragt. Die allermeisten Eingriffe und Behandlungen sind weitgehend standardisiert.

3. «Ambulanzfahrzeuge seien besser ausgerüstet und die Equipen besser ausgebildet als früher, seien also fast kleine Spitäler.»

Die Notwendigkeit der Rettungsdienste ist unbestritten. Seit der Zentralisierung des Rettungswesens in unserer Region müssen wir gegenüber früher aber eine Qualitätseinbusse in diesem Bereich feststellen. Dies ist nicht der Fehler der Einsatzequipen, die sich redlich bemühen, sondern liegt am falschen Grundsatz, einen Rettungsdienst weit in der Peripherie nach dem gleichen, kostenintensiven Konzept zu organisieren, wie es sich in grossen Agglomerationen bewährt. Die geistige Beweglichkeit für differenzierte, angepasste und wirtschaftliche Modelle scheint aber bei den zuständigen Stellen beim Kanton nicht vorhanden zu sein.

4. Entgegen Ihrer saloppen Aussage, dass kleine Akutspitäler nicht alle Fälle mit der notwendigen Qualität behandeln können, stellen wir als Ärzte und Grundversorger an der Front fest, dass die angebotenen Leistungen der Kleinspitäler mindestens auf Niveau der grossen Kliniken erbracht werden. Dazu gehört auch das Erkennen der eigenen Grenzen, was gelegentlich zur Erfahrung führt, dass überall, auch in den echten und selbst ernannten Zentren nur mit Wasser gekocht wird. Es stellt sich also weniger die Frage, ob ein Kleinspital weit in der Peripherie auch in Zukunft die notwendige Qualität erbringen wird, sondern ob es nicht gerade als erste Anlaufstation die Qualität einer sinnvollen, stufengerechten und wirtschaftlichen Behandlungskette garantieren soll. Die Equipen der Rettungsdienste, in die man nach Ihnen anstelle von Kleinspitälern investieren sollte, haben wohl eine intensive dreijährige Ausbildung absolviert. Trotzdem sind ihre Fähigkeiten, die vielfältigen Notfallsituationen zu beurteilen, eingeschränkt und nicht mit den langjährigen Erfahrungen eines klinisch tätigen Arztes vergleichbar. Dies führt aus einem verständlichen Sicherheitsbedürfnis heraus oft zur Überschätzung und teuren Überbehandlung eines Problems. Eine korrekte Beurteilung und definitive Behandlung im Kleinspital ist bei weit über 80 Prozent der per Ambulanz zugewiesenen Fälle problemlos möglich. Die Triage vor Ort durch erfahrene Ärzte erspart deshalb zahlreichen Patienten und Prämienzahlern unnötige, lange und teure Transporte.

5. Ein qualitativ genügendes Gesundheitszentrum mit den einleitend vage festgehaltenen Merkmalen braucht unseres Erachtens folgende Dienste mit entsprechendem Personal: Innere Medizin, Allgemein- und Unfallchirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Anästhesiologie und Psychiatrie. Für Diagnostik und Therapie: Labor, Radiologie, Sonographie, Physiotherapie und diverse Beratungsstellen. Ein Gesundheitszentrum mit gut motivierten und entsprechend ausgebildeten und qualifizierten Ärzten zu besetzen, wenn keine stationäre Behandlung angeboten wird, dürfte kaum möglich sein. Falls dies trotzdem gelingt, wären sie mit der Beurteilung und Versorgung von nur noch ambulanten Patienten unterbeschäftigt, ähnlich dem Konzept des Rettungsdienstes (2/3 Warten, 1/3 Einsatz). Hat dies eine Zukunft? Warum nicht das vorhandene Potential nutzen?

Was wir brauchen, ist ein Akutspital (nicht zwei, wie bis anhin) mit stationärem Angebot nach dem ursprünglichen Konzept der Spital STS AG für die Region Saanenland-Simmental. Dies wäre ein «Gesundheitszentrum», das den Namen verdient, klein, beweglich, gut organisiert und autonom zur Behandlung der häufigen Fälle. Für ein Konzept ohne adäquates Bettenangebot sind bei uns die Transportwege, speziell für Geburtshilfe (z.B. Lauenen–Thun gegen 1½ Stunden) zu lang, um schweizerischem Standard zu genügen. Der Zentralisierungswahn hat seine Grenzen. Der Regierungsrat steht auch der abgelegenen Bergbevölkerung gegenüber in der Pflicht. Zeitgerechte Versorgung vor Ort ist eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale. Mit unbelegten Scheinargumenten zu Kosten und Qualität sollte sich die Bevölkerung nicht täuschen lassen. Zwei Gesundheitszentren nach den Vorstellungen des Kantons stellen für unsere Region mit den grossen Distanzen zum Zentrum keine Lösung dar und kommen einem massiven Qualitätsabbau gleich.

Der Dialog mit den betroffenen Sachverständigen vor Ort inklusive Grundversorger wurde bisher nicht für nötig gehalten und drängt sich auf. Gerne stehen wir für entsprechende Gespräche zur Verfügung.

Die Ärzteschaft Saanenland-Simmental: Dres. med. Rudolf Minnig, Philippe Ganz, Markus Blum, Peter Wittkopf, Daniel Siegrist, Monika Schürch, Thomas Zimmerli, Judith Perrin, Matthias Perrin, Manfred Essig, Daniel Trötschler, Sabine Zoll, Jacek Cichon, Ueli Stucki, Jochen Mohr, Beat Hählen, Hans Niklaus, Christian Reuteler, Renata Raaflaub, Claudia Hauswirth, Nikolaus Hoyer, Claudia Sollberger, Beat Michel, Niklaus Perreten, Patrick Scherrer.

Erstellt am: 05.08.2010

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