Roland Reichenbach referierte über «Schule ohne Aura»
«Moral ist die Kapitulation vor hoher Komplexität»
Letzten Donnerstag hielt Roland Reichenbach vor einem gut besetzten Landhaussaal in Saanen ein einstündiges Referat und stellte sich danach der Diskussion. Eingeladen hatte die Einwohnergemeinde Saanen und viele Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Behördenmitglieder und Politiker folgten diesem Ruf. Der Pädagogikprofessor aus Basel ist nach seinem Artikel im «Magazin» zu einem begehrten Redner geworden, dessen Meinung an vielen Orten gefragt ist.

Wenn alle das Gleiche sagen, dann heisst das noch lange nicht, dass es das Richtige ist. Es braucht deshalb immer wieder Menschen, welche die vorherrschende Meinung in Frage stellen. Roland Reichenbach macht dies auf dem Gebiet der Bildung. Er macht es provokant, er spitzt zu, er bringt sein Publikum zum Lachen mit Witz und Ironie. Er weiss, dass es neben den neuen Lernformen die bewährten alten braucht, dass Unterricht aus zwei Dritteln Üben besteht, dass Zuverlässigkeit und Sorgfalt auch wichtig sind, um nur einige zu nennen.
Bildungsinstitution oder Erziehungsanstalt?
Wie ein Chirurg schneidet er dort, wo er Probleme findet, wohl wissend, dass die meisten Probleme in der Bildung Gesellschaftsprobleme sind. Die Schule hat laut Roland Reichenbach ihre Autorität verloren. Sie ist von einer Bildungsinstitution zu einem Dienstleistungsbetrieb verkommen. Alle dürfen alles an der Schule kritisieren, alle wissen alles immer besser, der Respekt gegenüber der Lehrpersonen wird immer kleiner. Die Widersprüche der Gesellschaft schlagen voll in die Schule durch, sollten dort aber tunlichst ausgemerzt werden. Die Schule kann immer weniger bilden und muss immer mehr erziehen.
Ist Bildung messbar?
Dazu stehen die Schulen immer mehr in einem Wettbewerb. Korea wird mit Finnland verglichen, obwohl Bildung kaum messbar ist und Leistungsmassstäbe umstritten sind. Die Folgen sind, dass nur noch gelernt wird, was dann auch überprüft wird. Der Ausdruck dafür heisst teaching to the test und narrowing the curiculum. Reformen, schlecht vorbereitet und ohne die notwendigen Ressourcen, belasten die Schulen zusätzlich und halten die Lehrerinnen und Lehrer von ihrem Kerngeschäft Unterricht ab. Roland Reichenbach ist für Leistung in der Schule und er ist für Noten, er ist aber gegen eine Selektion in der Volksschule.
Theorie und Praxis
Roland Reichenbach stemmt sich nicht gegen Neuerungen, gegen den Fortschritt, er zeigt aber Verirrungen und Auswüchse der Entwicklung so schonungslos auf, dass es eine Freude ist. Hier drängt sich ein Vergleich auf: Wir werden heute überall mit Musik beschallt, die wir nicht gewählt haben, die irgend einem Allerweltsgeschmack entspricht. Wie wohltuend ist ein Konzert, das die durch die Dauerberieselung verklebten Ohren wieder öffnet und das Hirn durchlüftet. Genau das Gleiche macht Roland Reichenbach auf seinem Gebiet. Er sagt Dinge, die ausser ihm fast niemand sagt. Er sagt sie zwar von oben herab, als Universitätsprofessor, aber ich traue ihm zu, dass er eine Realklasse problemlos übernehmen und über längere Zeit führen könnte. Es gibt im Gegensatz zu ihm Dozentinnen und Dozenten an den pädagogischen Hochschulen, denen würden die Realschüler/innen nach zwanzig Minuten davon laufen. Thomas Raaflaub