Neutralität – ein Heiligtum?

Geschätzter Grossrat Thomas Knutti

Du tust viel für unsere Gegend, das möchte ich mit diesen Zeilen keineswegs schmälern, wenn ich nun leicht daran zweifle, ob Du in Sachen Ukraine noch so denkst wie die hiesigen Leute. Eigentlich kenne ich Dich nicht als sehr behördenhörig und wundere mich darum schon etwas, dass Du in Sachen Neutralität so sehr mit dem Establishment mitziehst!

Der Zweite Weltkrieg hat leider gezeigt, wie viel sich noch auf die Neutralität verlassen lässt! Hitler hatte ja unserem ehemaligen Bundesrat Schulthess 1937 zugesichert, unsere Neutralität zu respektieren, aber wenn er die Schweiz im Frühjahr 1940 als Durchmarschland nötig gehabt hätte, wäre diese Zusicherung ohne Zweifel Makulatur geworden!

Weil wir nun im Zweiten Weltkrieg einigermassen heil davon gekommen sind, ist das nur zu einem kleinen Teil dem schönen Wort Neutralität zu verdanken, die ja damals schon recht angekratzt war, wenn man sich erinnert, wie viele Züge zwischen Mussolinis Italien und dem Dritten Reich verkehrten.

Der Bundesrat hatte damals gar keine andere Wahl, als hin und her zu lavieren, um einerseits den nördlichen Despoten nicht zu erzürnen und gleichzeitig die Alliierten andererseits nicht vor den Kopf zu stossen.

Meine frühesten Erinnerungen als Erstklässler gehen in den Herbst 1939 zurück, allwo ich mitbekam, wie viel Sympathie damals von unserer Seite den Finnen galt, als sie von Stalin so brutal überfallen wurden, nachdem er dank dem Nichtangriffspakt mit dem Dritten Reich den Polen von Osten her den Todesstoss gegeben hatte.

Heute geht eine ähnliche Sympathiewelle für die Ukraine durch unser Land, das zuerst, ähnlich wie die Finnen damals, allein gelassen wurde!

Natürlich anerkenne ich sehr, was unser Land, von Waffenlieferungen abgesehen, für die Bevölkerung der Ukraine tut!

Den Ukrainern wurde, im Gegensatz zu den Finnen im Herbst 1939, bald einmal mit Waffen geholfen, aber meiner Ansicht nach zu wenig, um sich in nützlicher Zeit von diesem Joch zu befreien. Dass die Schweiz nun die Neutralität als Vorwand ins Feld führt, um nicht einmal auf indirektem Weg Waffen für die Befreiung dieses mutigen Volkes abzugeben, lässt doch tief blicken. Die Ukrainer wehren sich nämlich stellvertretend auch für uns und den ganzen Westen und hätten darum nicht nur unsere Sympathie, sondern auch unsere Waffenhilfe verdient.

Vielleicht kommt doch eines Tages noch die Einsicht, dass Neutralität gegenüber Usurpatoren vom Format des Kremlchefs reinen Selbstmord bedeutet!

Gottfried Aegler, Erlenbach