Vor 100 Jahren wagten Jakob und Elise Haldemann und ihre Kinder den Sprung «über das grosse Wasser»
Aus Armut vom Simmental in die USA ausgewandert
«Wes nümme anders geit, so chemet halt übere, übers grosse Wasser nach Amerika, wir si denn o gange vor Jahre, wo me i der Schwyz u ds Europa bald nume no z’nackte Läbe vor sich gha het. Äs isch hie würklich es bitzeli besser!» Diese «Einladung» von Verwandten erschien der Familie Haldemann aus Erlenbach – die in Oeschseite die Wirtschaft Waldmatte und ein Lädeli betrieb – als Lösung in einer Zeit voller Armut. Ein eindrücklicher Bericht über die achtköpfige Simmentaler Familie, aufgezeichnet von Armin Steiner, Jahrgang 1932, aus Spiez.

Die 1912 nach Wisconsin ausgewanderte Simmentaler Familie Haldemann.
Viele Familien kämpften in der Zeit um die Jahrhundertwende 1900 ums Überleben. 80 Prozent der Bevölkerung waren sehr arm. Das Geld der Reichen kam zu wenig in Umlauf und wurde der Wirtschaft entzogen. Die armen Leute wurden zum Teil als Angestellte, Knechte, Mägde und wie Sklaven gehalten. Verdingkinder wurden ausgenutzt. Es gab viele Krankheiten.
Stegweide, Erlenbach und Waldmatte Oeschseite
Familie Haldemann lebte im Weiler «Untere Stegweide» in Erlenbach, einem steilen, «streitbaren Bauern-Grütschli» mit Wohnteil, einem Stall und einer Diele für das Tierfutter. Ein «Chueli», zwei bis drei «Guschti», vier Kälber und drei Geissen waren ihr Eigentum. Sofern Arbeit angeboten wurde, arbeitete Vater Jakob für ein paar Rappen Stundenlohn als Taglöhner. Die Sommerzeit verbrachte die Familie mit ihren sechs Kindern während zehn Jahren in der Oeschseite. Neben einem kleinen Landwirtschaftsbetrieb führten die Haldemanns anfangs erfolgreich die Wirtschaft Waldmatte mit einem Verkaufslädeli. Bald konnten aber die Lieferanten nicht mehr bezahlt werden, weil die Kunden ihre Warenbezüge «anschreiben» liessen, statt bar bezahlten. Die Schuldenlast wurde erdrückend.
Auswandern als letzte Hoffnung
Im Herbst 1911 entschied sich Familie Haldemann zur Aufgabe des Pacht- und Mietbetriebs Waldmatte undmachte sich Gedanken, in die USA auszuwandern. Es muss eine schwierige Angelegenheit gewesen sein, als Familie mit schulpflichtigen Kindern (heimlich) die Heimat zu verlassen. Wegen den grossen Schulden durfte nämlich niemand etwas von der Reiseabsicht wissen. «Wie soll es weitergehen? Wer zahlt unsere Schulden» war die bange Frage vor der Abreise. Auf «Umwegen» konnte das Reisegeld aufgetrieben werden.
Bahnfahrt: Dritte Klasse im hinteren Wagen
Die Bahnfahrt von Erlenbach nach Le Havre und die Schifffahrt nach New York wurden im Stillen organisiert. Die Abreise erfolgte Ende März 1912 in einer Nacht- und Nebelaktion. Das Schulexamen in Erlenbach war vorbei, die Frühjahrsferien angesagt und das Fehlen der Kinder blieb darum vorerst unbemerkt. Es war noch etwas dunkel, als die ganze Familie bei trübem Wetter um sieben Uhr am Bahnhof Erlenbach auf den ersten Zug von Zweisimmen wartete. Haldemanns stiegen im hinteren Wagen, in der dritten Klasse ein. Nur wenige hätten etwas bemerkt und im Versteckten Adieu gewunken. Eingeweihte Verwandte winkten der Familie «in Oey bei der unteren Barierre auf der Seite Latterbach» zu. Während einer Woche unternahm Friedrich Steiner jeden Abend einen Fussmarsch von Oey nach Erlenbach, um während zwei Stunden den «Petroltägel» (die Öllampe) anzuzünden. Damit sollte der Eindruck erweckt werden, dass Haldemanns zuhause wären.
Titanic-Untergang: Fahnen auf Halbmast und Suche nach Opfern
In Spiez, Bern und Basel musste umgestiegen werden. Im Wagen der französischen Staatsbahn habe die Hälfte der Sitzbänke gefehlt, weil auch noch Tiere mitbefördert worden seien. Die Zollformalitäten in Basel und das Umsteigen von der Bahn auf den Überseedampfer in Le Havre verlief dank vorhandener Papiere gut. Nach fast zwei Wochen auf dem Meer wurden die Fahnen auf dem Schiffmast auf Halbmast gesenkt. Über Funk hatte die Mannschaft erfahren, dass in unmittelbarer Nähe die Titanic gesunken sei. Das Schiff wurde zur (erfolglosen) Suche von Vermissten umgeleitet. Bei der Ankunft in New York wurde die Familie sehr lange zurückgehalten. Dank den Französischkenntnissen und dem resoluten Auftreten von Mutter Haldemann – sie war in La Sarraz (VD) aufgewachsen – konnte auch diese Hürde genommen werden. Weiter ging es mit der amerikanischen Staatsbahn nach Wisconsin, wo Freunde und Bekannte wohnten.
Erfolgreiche Farmer und Gelatine-Produzenten
Der Vater fand Arbeit in der Landwirtschaft. Dank seinen Fähigkeiten wurde schon ihm bald die Führung einer 140 Hektaren grossen Farm (im Besitz einer Leim- und Gelatine-Corporation) anvertraut. Mehrere Kinder arbeiteten für diesen Industriebetrieb. Als der Betrieb in der Weltwirtschaftskrise um 1929 vom Bankrott bedroht wurde, übernahmen die Geschwister Haldemann das Zepter und führten den Gelatine-Produktionsbetrieb bis 1976 erfolgreich durch alle Krisen- und Kriegszeiten. Vater Jakob Haldemann starb am 30. November 1941.
Geburtstagskarte von US-Präsident Jimmy Carter
Seiner Gattin Elise, geboren am 17. Januar 1881, waren 103 Lebensjahre vergönnt. Sie durfte 1981 anlässlich ihres hundertsten Geburtstags die Glückwünsche von Lee Dreyfus, Governor des Staats Wisconsin und eine Karte mit der Unterschrift von US-Präsident Jimmy Carter in Empfang nehmen. 1949 hatte sie ihrer alten Heimat einen zweiwöchigen Besuch abgestattet. In Erlenbach und Oeschseite verweilte man nur ganz kurze Zeit, um nicht allzusehr mit der schwierigen Zeit vor 1912 konfrontiert zu werden. Entsprechend ihrem letzten Willen besuchte 1984 Sohn Fred Haldemann (geb. 1904), das Simmental. Bei seinem Abstecher in die «Waldmatte», Oeschseite konnte er sich noch gut an seinen ehemaligen Sommer-Aufenthaltsort, an die ersten Schuljahre in Reichenstein und an seinen Klassenkameraden Gottlieb Knubel-Rieben erinnern!
Ernst Hodel

Fritz Fred Haldemann, geboren 1904, beim Schulende in Wisconsin. Er hatte die beiden ersten Schuljahre im Reichenstein, Gde. Zweisimmen absolviert.

Schulende 1917 in Wisc älteste Tochter Martha Haldemann geboren CH 1901

Schulende 1918 in Wisc ältester Sohn Hans Jalm Haldemann geb CH 1902 artiger Kopf