Jetzt reicht’s: Wenn der Start ins Leben zur betriebswirtschaftlichen Frage wird
Ein Plädoyer für Würde, Urvertrauen und Menschlichkeit – zum «Neuen Betriebskonzept Spital Zweisimmen» (Spital-Impuls Zweisimmen, Juli 2025).
Ich schreibe diesen Artikel nicht als Wutbürgerin, sondern als Fachfrau. Als Pädagogin, die über Jahrzehnte hinweg Kinder, Eltern, Familien und Systeme begleitet. Als Frau mit beiden Füssen im Leben – und als Mutter, die tief in sich weiss, wie entscheidend der Anfang des Lebens ist.
Ich erhebe meine Stimme – nicht aus Protest, sondern aus Verantwortung. Ich sehe, wie Kinder zunehmend bindungstraumatisiert sind, wie Mütter und Väter den Zugang zu ihrem Instinkt verlieren. Und ich erlebe täglich, wie sehr es tragfähige, kraftvolle Systeme braucht – vor Ort, nah am Menschen, nah am Leben.
Pragmatismus bedeutet nicht Kürzung. Es bedeutet, mit dem zu arbeiten, was wirklich trägt: Nähe. Vertrauen. Fachlichkeit. Verfügbarkeit.
In Zweisimmen soll der Operationsbetrieb eingestellt werden. Das Geburtshaus Maternité Alpine ist damit in seiner Existenz bedroht. Wieder trifft es eine ländliche Region. Wieder wird der Anfang des Lebens zur Verhandlungsmasse. Wieder werden familiäre Bedürfnisse der Ökonomie untergeordnet.
«Wir werden die Erwartungen erfüllen», sagt die Spital STS AG. Doch diese Aussage widerspricht der Realität. Erwartet wird Sicherheit, Präsenz und Verlässlichkeit – nicht Rückzug, nicht Unsicherheit, nicht das Auflösen bewährter Strukturen.
Geburt ist kein planbarer Standardprozess. Sie ist ein Übergang ins Leben – ein Moment, der geprägt ist von Urvertrauen, Schutz und Kontakt. Lange Wege erhöhen den Stress. Sie gefährden Bindung und verstärken das Gefühl von Ausgeliefertsein.
Der Schrei eines Neugeborenen ist kein Kostenpunkt. Er ist ein Ruf nach Leben. Und wir alle sind verantwortlich dafür, wie wir diesen Ruf beantworten.
Gleichzeitig sprechen wir von Fachkräftemangel. Dabei gibt es sie – die Fachpersonen mit Kompetenz, Erfahrung und Herz. Menschen, die in der Region verwurzelt sind und bereit wären, Verantwortung zu übernehmen – wenn man sie unterstützen und tun liesse.
Was hier passiert, ist keine notwendige Transformation. Es ist ein Abbau. Es ist ein Rückschritt.
Leben ist in seiner ursprünglichen Form anders gedacht: verbunden, getragen, geerdet. Nicht fremdbestimmt, nicht durchgetaktet, nicht planbar.
Gerade in unseren Tälern leben viele Menschen mit gelebter Selbstverantwortung. Sie wissen, was zu tun ist, wenn es eine Wunde zu versorgen gilt. Sie kennen Heilpflanzen, Kreisläufe, Instinkte. Doch Selbstverantwortung braucht ein Netz, das hält. Bei Geburten. Im Notfall. In Übergängen.
Verantwortung bedeutet, dieses Netz zu stärken – nicht zu kappen.
Wenn von Effizienz gesprochen wird, stellen sich Fragen:
– Was kostet es, wenn der Start ins Leben belastet ist?
– Wie effizient ist ein System, das am Anfang spart und später das Vielfache zahlt?
– Wie tragfähig ist eine Gesellschaft, die Familien im entscheidenden Moment allein lässt?
Diese Entscheidungen treffen nicht Einzelne – sie treffen ganze Familien. Eltern, die sich einem Eingriff unterziehen. Kinder, die behandelt werden müssen. Grosseltern, Alleinerziehende, Pflegefamilien – Menschen, die tagtäglich tragen und aushalten, als Teil unserer Gesellschaft.
Wer die medizinische Grundversorgung schwächt, gefährdet nicht nur den Spitalstandort. Er gefährdet das soziale Gefüge einer ganzen Region – und schlussendlich unseres Landes.
Was wir brauchen, ist Klarheit. Nähe. Und den Mut, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Geburt ist kein logistisches Projekt – sie ist Ursprung, da, wo alles beginnt. Und genau dort wird derzeit gespart.
Es ist höchste Zeit, wieder vom Menschen her zu denken. Der Start ins Leben entscheidet mit über alles Weitere. Und genau dort beginnt verantwortliche Politik.
Jetzt ist der Moment, laut und klar zu sagen: So nicht.
Wir brauchen eine Versorgung, die dem Leben dient – nicht der Statistik.
Eine Politik, die Vertrauen aufbaut – nicht Verantwortung abgibt.
Räume, in denen Familien getragen sind – von Anfang an. Simone Wampfler, Horboden