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Eddys goldener Oscar

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Eddys goldener Oscar

Ich erwache schweissgebadet. Wo bin ich? Alles ist stockdunkel. Ich taste vorsichtig nach links. Meine Finger berühren etwas metallisches. Mit einem leisen Klick leuchten bläulich Zahlen auf – 05:37. Du meine Güte, ich liege in meinem Bett und es ist früher Morgen. Bald wird es digital brutal zur Tagwache piepsen – zu europäischer Zeit, not Pacific Standard Time.

Eben erst noch war ich in meinen Träumen minus neun Stunden früher an der amerikanischen Pazifikküste, mitten drin in der Oscar-Verleihung. Ich versuchte nicht, am Eingang des Kodak-Buildings einen der Stars zu erblicken, und ich wandelte nicht im Blitzlichtgewitter über den roten Teppich: Ich stand vorne auf der Bühne, hielt eine Oscar-Statue in der Hand und blickte in Hunderte von Augenpaaren über frenetisch applaudierenden Händen. Irgend etwas in mir machte mir deutlich, dass ich nun etwas Nachhaltiges für die Filmgeschichtsbücher sagen sollte. Ich war jedoch wie gelähmt von der unerwarteten, ungeprobten und in keinem Drehbuch stehenden Szene. Wie war ich überhaupt auf diese Bühne gelangt? Alles nur ein böser Traum? Mein Wecker zeigt inzwischen 05:42 – Lenker Alpine Time.

«And the Oscar goes to... Eddy Quicksilver», hörte ich die aufgebrezelte Lady in der Abendrobe von der Bühne frohlocken, nachdem sie das ihr gereichte Couvert mit langen, tiefroten Fingernägeln aufgefingert hatte. In den Sitzreihen vor mir drehten sich alle nach mir um. Wie vom Sog eines reissenden Flusses wurde ich nach vorne gespült, die kleine Treppe hoch, mitten auf die Bühne. Und hier stand ich nun, von den Scheinwerfern geblendet, sprachlos. Wer zum Teufel war Eddy Quicksilver? Quecksilber? Die Zeit auf meinem Wecker verrinnt weniger zähflüssig: Es ist bereits 05:49 – helvetische Winter-Bald-Aufsteh-Zeit.

Der Applaus ebbte ab, es gab kein Entrinnen mehr, ich musste endlich was sagen. Irgendwie erinnerte ich mich, dass sich Kate Winslet vor wenigen Minuten mit den Worten für den Oscar bedankt hatte, sie habe bereits als achtjähriges Mädchen vor dem Badezimmerspiegel für eine allfällige Auszeichnung geübt – damals mit einer Shampooflasche. Da ich nicht wie einst die stolze Titanic untergehen wollte, packte ich verzweifelt diesen hingeworfenen Rettungsring und begann weinerlich zu danken. Meiner Mutter, die beim Haarewaschen immer sorgsam darauf geachtet hatte, dass mir kein Shampoo in die Augen lief. Meinem Vater, dass er mir seine frühe Glatze nicht vererbt hat. Meinem Bruder, dass er mich nicht bei meiner Mutter verpetzte, wenn ich mir von meiner Gotte die Haare schneiden liess und mit dem damit heimlich eingesparten Fünfliber die neuste Beatles- oder Stones-Single erstand. Ich wusste zwar immer noch nicht, ob ich selbst wirklich Eddy Quicksilver war und warum gerade er einen Oscar erhielt. Mit einem filmreifen, tränenreichen «Thank you, thank you, thank you» schaffte ich es jedoch, aus dem gleissenden Rampenlicht zu verschwinden – und erwachte vor wenigen Minuten schweissgebadet zu Hause im Bett. Im Obersimmental ist es inzwischen 05:59. Was bin ich doch froh, piepst der sonst ungeliebte Wecker in ein paar Sekunden. In der richtigen Welt – ohne roten Teppich und Eddys goldenen Oscar.

Erstellt am: 26.02.2009

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